In die Röhre geschaut.

Der Zimbelschlag, der mich munter werden ließ und mein Leben in besonderer Hinsicht bereichern sollte, traf mich auf dem Weg zur Arbeit.

Ich schälte mich – wie fast immer in letzter Zeit – missmutig aus dem Bett, schlurfte in die Küche an die Siebträgermaschine und bereitete, die Augen noch halb geschlossen, meine Morgengabe zu.

Im Stehen trank ich meine täglichen zwei Kaffees mit Hafermilch und hörte der „Lage am Morgen“ zu.

Meiner Routine folgend, aktivierte ich dann die Frühmeditation einer bekannten YouTuberin. „Schön, dass du hier bist, Namaste“.

„Ja, du mich auch“, murmelte ich.

Heute war einfach nicht mein Tag.

Es regnete nämlich „cats and dogs“, wie die Briten sagen. Aber ich wohne natürlich nicht in meiner Lieblingsstadt London, wo diese Wetterlage hingehört, sondern in einer deutschen Großstadt mit vielen hohen Häusern und noch viel mehr Karrierepotential.

Ich verließ das Haus in Regenklamotten und Gummistiefeln. Stylisch zwar, aber auf Dauer doch schweißfußfördernd und nahm, der Nässe wegen, den Linienbus. Nummer 32 in Richtung Westbahnhof.

Mit der Idee war ich allerdings nicht die Einzige. Nicht zu wenige Mitmenschen dachten ähnlich. Dicht gedrängt an den Griffschlaufen hängend oder auf den wenigen Plätzen sitzend harrten sie aus. Darauf wartend, an ihrer Haltestelle aus dem Bus heraus zu perlen. Zeitung liest ja niemand mehr, deshalb starrten fast alle einhändig und hypnotisiert auf ihr Smartphone oder sprachen, die respektvolle Lautstärke vermissend, in ihre Geräte.

Smartphone-Zombies!

Ich quetschte mich zum hinteren Teil des Busses hindurch, vorbei an Menschen mit tropfenden Schirmen, Rucksäcken und Kinderwägen und fand mich schlussendlich sogar auf einem freien Platz wieder.

Glück gehabt! Vis-à-vis-Anordnung in Fahrtrichtung am Fenster.

Warum dort allerdings niemand saß, merkte ich, als ich mein Gegenüber zur Kenntnis nahm.

Dort saß ein Mann, geschätztes Alter Ende Sechzig, mit zerzausten, dunklen Haaren. Er trug einen schmuddeligen Armeeparka mit vielen Außentaschen und hatte einen Atem, der beträchtlich nach nächtlichem Gelage roch. Seine Schuhe waren mit getrocknetem Schlamm bedeckt und die Jeans an den Kniescheiben zerrissen und blutbefleckt.

Warum immer ich? Irgendwas ist ja immer, dachte ich. Zu der Zeit hatte ich mir noch den Leitsatz meines Vaters zu Eigen gemacht. Der meinte immer über sich selbst: „Ich bin ein Pechvogel, ich kaufe mir einen teuren Anzug mit zwei Hosen und verbrenne mir das Jackett.“

Während der Fahrt im Stadtverkehr versuchte ich tunlichst flach zu atmen. Dennoch musterte ich mein Gegenüber immer wieder aus den Augenwinkeln. Er nestelte in einer seiner Jackentaschen herum.

Was war da drin? Was hatte er vor? War da ein Messer drin? Eine andere Waffe? Mich erfüllte eine klitzekleine Angstattacke. Die Jacke klaffte auseinander und gab den Blick auf seinen Oberkörper frei.

Gott sei Dank, er trug ein T-Shirt. Wider Erwarten sogar sauber.

Doch plötzlich bremste der Bus scharf. Es gab einen kräftigen Ruck und ich fiel ohne Halt meinem Mitfahrer in die Arme.

Der Busfahrer fluchte derweil so laut, dass es bis in die hinteren Reihen zu hören war. „Was an Idiot, wohl de Führerschein im Loddo gewonne! Depp!“

Mein Gegenüber und ich schauten uns überrascht an.

Er lachte freundlich und zeigte mir dabei seinen fast zahnlosen Kiefer. Er hatte ein ebenmäßiges Gesicht. Seine Haut war unrasiert und unterhalb des linken Auges war eine Tätowierung, eine sogenannte Knastträne, zu erkennen.

Aber etwas hinderte mich daran, meiner üblichen schnellen Vorverurteilung zu folgen. Das war keiner der gewöhnlichen Ausrangierten.

„Na junge Frau, das ist schon ein wenig länger her, dass ich solch einen hübschen Fang gemacht habe.“ Die Stimme war trotz Alkohol klar und verständlich. Keine verschluckten Konsonanten und Vokale.

„Und auf einmal steht es neben dir. Das dichtete schon der Jo Ringelnatz 1933“, sagte er.

„…oder sitzt auf dir drauf“, fügte er kichernd hinzu.

Der Bus fuhr währenddessen wieder an. Die anderen Fahrgäste ordneten sich und ihre Dinge wieder zusammen.

Ich entschuldigte mich bei meinem Vis-à-vis und setzte mich wieder zurück auf meinen Platz.

„Immer die Zähne zusammenbeißen, meine Dame, egal was kommt“, meinte der Mann, „habe ich auch getan, solange bis keine mehr da waren.“

„Deshalb muss man ab und zu auch mal in die Röhre schauen, die Sichtweise checken und entspannen.“

Er beugte sich zu mir herüber, eine olfaktorische Herausforderung der Marke Underberg oder so traf mich unter der Nase und fuhr fort: „Hätte ich früher wissen müssen, das mit der Sichtweise, dann wäre es vielleicht anders gekommen.“

„Ach ja? Was denn?“ fragte ich nach. Neugierig sein gehört schließlich zu meinem Beruf. Finde ich den Sprung in der Lebensschüssel eines Menschen, bin ich angefixt.

Der Geruch war dann, wie in dem Fall, nebensächlich.

„Meine Frau“ antwortete er lapidar und schaute aus dem Fenster.

„Sie hat mich verlassen. Futschikato. Ist die Treppe runter.“

Und dann nach einer Weile: „Also, ich stand oben und sie lag unten. Dabei habe ich sie nur ein kleines bisschen angefasst. Naja, jetzt schaut sie von ganz oben runter und ich liege ganz unten.“

Er machte eine Pause und fummelte wieder in der Jackentasche herum.

„Wenn die Sonne mal richtig hell scheint, schau ich hier durch ins Licht. Sieht dann alles gleich besser aus.“ Er zog die Hand aus seiner Tasche und reichte mir einen länglichen Gegenstand.

„Schau mal durch, meine Schöne!“

Ich nahm das Ding an – Händewaschen konnte ich ja später – kniff mein linkes Auge zu und sah mit dem rechten hinein.

Ein Kaleidoskop! Die eben noch kalte Beleuchtung im Bus bekam Farbe vor meinem Auge. Eine magische Welt tat sich auf. Farben, Glitzer, Schimmern, Teilchen, die in den inneren Spiegeln reflektiert wurden. Ich sah:

Perfekte Symmetrie.

Einzigartig.

Vergänglich.

Verletzlich.

Es war magisch. Ich war verzaubert.

„Kannste behalten!“ flüsterte mein Gegenüber, gähnte ausgiebig. Und während er sich daraufhin die Kapuze seines Parkas über den Kopf zog, sang er leise: „Blinded by the light.“ Dann schloss er die Augen und schlief auf der Stelle ein.

Die nächste Haltestelle war meine. Ich stieg aus, es regnete immer noch. Auf dem Weg ins Büro dachte ich an Manfred Manns Earth Band und an magische Lichter. Man sollte öfter in das Licht am Ende einer Röhre schauen, denn nichts ist, wie es auf den ersten Blick zu sein schein, die Perspektive machts.