„Dein Arsch ist so fett wie unser Grill“, sagte der Vater und kratzte sich. Der bereits mit leichtem Gilb verfärbte Stoff gab auf der spärlich behaarten Brust ein schabendes Geräusch von sich. Der Geruch von Bier hing in der sommerlichen Luft der Kleingartenkolonie. Die selbstgebaute Laube war aus Stein, mit Fensterläden. Im Geräteschuppen gab es ein Plumpsklo.
Nur nicht zeigen, wie sehr diese Worte trafen. Das Mädchen, kein Kind mehr, fast schon Frau, schaute still vor sich, ihr Blick fiel auf den ordnungsgemäß gemähten Rasen und wanderte schließlich weiter über die gepflegten Beete mit Rosen, Löwenmäulchen, Karotten und Erdbeeren. Wäre ich unsichtbar, dachte sie, dann würde mich keiner bemerken, alles wäre gut. Wie auf einem Tablett saß sie dort, auf dem Überwurf eines Diwans, mitten auf dem Rasen und ließ die Worte über sich ergehen.
Eine dicke Hummel mit weichem orangeschwarzem Pelz zog träge an ihr vorbei und ließ sich sanft in der üppigen Blüte einer dunkelroten Pfingstrose nieder.
„Echt“, hub er wieder an, „du frisst in letzter Zeit viel zu viel, wirst immer fetter, mein Fräulein.“ Er nahm einen Schluck aus der braunen Flasche mit Exportbier, im Radio lief Schlagermusik. „Wenn ich ein Junge in deinem Alter wäre, ich würde dich mit dem Arsch nicht angucken. Mit dir muss man sich ja schämen.“ Er beugte sich vor, ein Rülpser entfuhr seinem Mund, er machte sich nicht die Mühe, das Körpergeräusch zu verhindern – man hatte sich in der Familie bereits daran gewöhnt. Er ließ sich behaglich mit Selbstgefälligkeit zurück in den weißen Plastikstuhl sinken. Diesen hatte man – wie alles andere – günstig in einem Sonderpostenmarkt im letzten Sommer erworben.
Die Hummel lag ebenfalls träge in der leicht im Sommerwind schwankenden Blume.
Wie schön sie ist, dachte das Mädchen währenddessen, so weich und rund. Und trotzdem kann sie fliegen. Wundervoll, irgendwie. Das Insekt schraubte den Rüssel tief in die Pollen und saugte die Nahrung gierig. Vielleicht ist sie ja eine Königin? Verträumt sah sie zu und war noch eine Weile damit beschäftig zu überlegen, wie es sein konnte, dass ein Tier mit diesem Körper nahezu schwerlos in die Luft abheben konnte. Kurz darauf spreizte die Hummel die Flügel und summte fort in Richtung Kirschbaum.
Und wie schlau sie ist, dachte sie, sie macht sich davon, wenn sie genug hat.
Ich bin auch satt. So voll mit Worten, die niemand hören will und auch gar nicht verstehen würde.
Sie dachte an den Nachmittag des Vortags, als alle in der Laube nebenan saßen und sich unterhielten. Nach einem oder zwei Doppelkorn meinte die Mutter jedenfalls, dass der dicke, blonde Sohn vom Nachbarn „ein kleiner, erster Freund“ für die Tochter sein könnte.
„Gib mir zwei Kamele und eine Ziege dafür.“ sagte der Vater zum Gartennachbarn und lachte laut.
Die Tochter schaute schüchtern auf dem schäbigen Linoleumboden und wollte widersprechen. Das konnte ihr jedoch niemand ansehen, denn sie trank mit und fühlte sich erwachsen. Und einen Freund zu haben, das schien von großer Wichtigkeit zu sein.
Der Weg zurück ins heimische Nest wurde mit den Fahrrädern zurückgelegt, denn für ein Auto reichte das Geld nicht. Die Familie bestehend aus Vater, Mutter und zwei weiteren Mädchen jüngeren Alters, orgelpfeifengleich in Reih und Glied hintereinander, radelte gemächlich und träge im Sommerabend über den Feldweg der Wohnsiedlung entgegen. Graue Mehrfamilienhäuser nach dem Krieg schnell, als modern geltend, errichtet.
Zu Hause gab der Vater den Ton an. Was gemacht wurde oder nicht, bestimmte er. Nachdrücklich. Er wusste es einfach nicht besser, also holte er das aus seiner Erinnerung, was er von seinem eigenen Vater noch kannte. Er meinte es schließlich doch nur gut mit ihnen, ihr und den anderen beiden, wenn er zuschlug.
Die Mutter redete gern leise hinter den Rücken von anderen Menschen. Nach außen jedoch immer freundlich und zugewandt. Um ihre Angst, gefolgt von Wut auf das Leben, loszuwerden, redete sie meist am Spültisch, bei verschlossener Küchentür, mit ihren unsichtbaren Zuhörern.
Ja, man rückte zusammen auf den wenigen, ordentlichen Quadratmetern. Geputzte Fenster hinter sauberen Rüschenvorhängen, „mit der Goldkante“, die eine bekannte Schauspielerin im Reklamefilm vorführte. Auf der Fensterbank standen rote, weiße und rosafarbene Alpenveilchen.
Fernsehen war wichtig, jeden Abend saßen die Mitglieder der Familie auf ihren festen Plätzen. Auf dem Fußboden die Kleinen, die anderen ausgestreckt auf Sesseln und dem Sofa. Man redete nicht miteinander, weil man dem Leben der Figuren in Sendungen zuschaute. Alles, was von vorn kam, war wichtig. „Ich will keine Schokolade, ich will lieber einen Mann!“ sang gerade eine dralle Sängerin.
„Hör gut zu“, sagte plötzlich die Mutter und drehte ihren Kopf hinter sich in Richtung Sofa, auf dem die älteste Tochter lag. Sie warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. „Wirst immer dicker, so bekommst du keinen Mann, der dich mal nimmt.“
Das Mädchen blickte auf den Tisch. Dort lagen Plätzchen mit Schokoladenglasur, nackt in einer halb heruntergelassen Verpackung.
Schlucken, bloß runterschlucken dachte die Tochter und, gleichzeitig, formulierte sie für sich ganz tief drinnen: „Halt endlich die dumme Fresse! Was weiß du schon?“ Scham und Schreck bildeten einen Klumpen im Inneren ihrer Kehle. So plötzlich der Gedanke kam, so schnell war die rechte Hand an der geöffneten Gebäckpackung. Schnell, schnell in den Mund, weg damit. Sie war ja doch brav, niemals Widerworte, obwohl, beim letzten Mal –
„Nimm die Brille runter“, sagte der Vater, „die hat schließlich viel Geld gekostet, wir sind nicht die Rothschilds und haben Dukatenscheißer im Keller.“
Die Ohrfeige brannte hart auf der rechten Wange.
„Sie haben ja recht, ich bin die Falsche.“ Dieser Satz hatte sich tief in ihr Selbst gegraben. Sie war artig, sie trug die alten Miederhosen der Mutter, „damit es nicht so schwabbelt.“ Längst hatte sie sich die Urteile anderer zu ihren eigenen Gedanken gemacht. Sie sah sich als Ungetüm, so wie sie war. Dabei hatte man sich doch so viel Mühe mit ihr gegeben, warum bloß passte das alles nicht?
In ihr wurde es still, die Süße des Gebäcks schob den Gedanken den Riegel vor. Was sollte sie stattdessen tun, wenn es wieder traurig wurde in ihr? Wenn es wie jetzt in diesem Augenblick wieder schlimm wurde? Im Fernsehen hatte die Künstlerin währenddessen ihren lustigen Gesang beendet.
„Schön ist sie ja nicht, aber ulkig. Sie wurde auch verlassen, ihr Mann hat sich wohl eine junge Blondine genommen“, gab die Mutter noch zum besten.
„Ach was“, sagte der Vater mit schwerer Zunge, „ein Mann sollte sich immer eine dicke Frau nehmen, im Winter hast du es warm und im Sommer hast du Schatten.“
„Ich gehe jetzt ins Bett“, sagte die älteste Tochter, erhob sich vom Sofa und presste sich am Sessel des Vaters vorbei. Sie spürte die Blicke der anderen auf sich, als sie die Wohnzimmertür öffnete. Der Flur, der zu ihrem Zimmer führte, war dunkel, die Holzdielen knarrten trotz Teppichboden. Unempfindliches Material und pflegeleicht. Ordentlich, in diesem sauberen Nest. Wie sollte es auch anders sein? Die anderen schienen ja zufrieden. Der Vater pfiff bei jeder Gelegenheit eine lustige Melodie, sorglos irgendwie. Aber manchmal pfiff er schriller auf zwei Fingern dann wollte er, dass seine Kinder pünktlich nach Hause kamen. Wenn nicht, machte er sich persönlich auf den Weg, um sie zu suchen. Denn, wie sein eigener Vater immer gesagt hatte: „Fünf Minuten vor der Zeit, ist des Soldaten Pünktlichkeit.“
Das Zimmer hatte wenige Quadratmeter und eine Dachschräge, also nicht viel Platz, aber immerhin. Das Mädchen auf dem Weg zur Frau zog sich aus und fühlte ihren weichen Körper. Sorgsam legte sie die Jeans von c&a und das orangeschwarz, quergestreiften Oberteil ordentlich über die Lehne des Schreibtischstuhls. Beide waren zuvor vom Cousin getragen und von ihr übernommen worden, denn es musste gespart werden. Als nächstes folgte die Unterwäsche, hautfarbenes Elastan von der Mutter. Sie öffnete das Fenster und lies die kühle Abendluft des Sommers ins Zimmer. Nackt stand sie einen kurzen Moment mit sich allein in der Dunkelheit. Erst danach streifte sie sich das weiteste Nachthemd, was zu finden war, über den Körper und legte sich in ihr Bett. Die anderen beiden mussten durch ihr Zimmer, um ins eigene Schlafzimmer zu gelangen. Das bedeutete möglichst schnell einzuschlafen.
Später im Traum flog sie. Die Sonne wärmte ihren Körper, sie war ganz leicht. Sie schaute an sich herunter und spürte sich in ihrer verletzlichen Weichheit. Nicht weit vor ihr konnte sie ein weites Feld mit tausenden, bunten Blumen erkennen, hier wollte sie sich niederlassen und ausruhen.