Der Wolf, die Leidenschaft und der kleine Tod!

Schokolade, eine der süchtig machenden Leidenschaften.

 

Zärtliches Liebkosen zwischen Gaumen und Zunge. Erotik im Mund. Pures Glück im Blut.

 

Ein Versprechen.

 

So sollte es sein: Eine uralte Medizin, eine magische Droge göttlichen Ursprungs, die, wenn es gut läuft, in einem nach diesem Glück verzehrenden Körper schmilzt und selig gefühlte Vollständigkeit wird.

 

Ein Auflösen im Genuss.

 

Ekstase im Vergänglichen.

 

Der Sinn des Lebens. Geschaffen worden, um zu Vergehen.

 

Oder „La petite mort“, wie die Franzosen so sagen. Zu Deutsch, „Der kleine Tod“.

 

Und was ist dazwischen?

 

Tja, das ist für mich hier gerade die Frage. Die Antwort fällt mir in meiner – gelinde gesagt – etwas schwierigen Lage nicht leicht.

 

Es ist nämlich so: Aus Schokolade kreiert, liege ich inmitten des Julis in der Mittagssonne und fange langsam an, wieder flüssig zu werden. Das hatte ich mir dann doch anders vorgestellt. Ein Geschenk sollte – und wollte – ich sein. Eine Bereicherung im Leben einer kranken Großmutter. Genauer, der von Rotkäppchen. Ach, gestatten Sie, mich vorzustellen: Ich bin der Wolf. Ja, der aus dem Märchen und ganz recht, ICH sollte verspeist werden. Von der Großmutter. Nicht umgekehrt. Ein Wolf aus hochwertiger Schokolade. Alles andere ist eine Lüge. Frei erfundener Nonsens zweier Studenten aus dem Hessischen.

Meiner Lebensaufgabe wegen verpackte man mich angemessen in üppige Klarsichtfolie nebst roten Glitzerschleifen zur Garnierung. Aber jetzt, in meiner Situation, wirkt dieses elegante Arrangement freilich nahezu lächerlich.

 

Ach, dieses junge Ding mit der roten Kappe. Verloren hat sie mich! Wie ein junges Reh hüpfte sie singend durch den Wald. Schwenkte dabei ihr Körbchen mit mir darin und schon flog ich aus demselben heraus. Auf das weiche Moos jener Lichtung. Die Sonne verbarg sich zu der Zeit fast schüchtern hinter den Bäumen. Noch, liebe Freunde, denn das sollte sich naturgemäß bald ändern. Das dumme Mädchen bemerkte ihren Verlust in keiner Weise und tanzte unbeirrt weiter. Die rote Kappe blitzte ab und an noch durch das üppige Grün, bevor sie ganz verschwand.

 

Nun liege ich im Schlamassel. Ein Dilemma, denn die Sonne nähert sich ihrem Zenit. Es ist zum Verrücktwerden! Doch ich sollte meine Energie besser portionieren. Die steigende Wärme von außen muss nicht auch noch mit der Panik unter meinem schokoladigen „Fell“ konkurrieren.

 

Ein leichter Wind lässt die roten Geschenkbänder anmutig tanzen. Die Verpackung knistert. Aber kein kühlender Hauch dringt in meinen durchsichtigen Palast. Ich bin ausgeliefert. Auf Gedeih und Verderb.

 

Bitte ein Wunder!

 

Über mir kreist schon seit einiger Zeit ein großer Vogel. Na, der würde sich wundern, nagte er an mir. Ich schmecke dir sicher nicht. Pardon, mein Lieber. Aber ich werde weicher. Die Ohren hängen schon ein wenig mehr und die Schnauze erst recht. Von meinem Hinterteil mit dem famosen Endstück ganz zu schweigen.

 

Es muss etwas passieren, sonst bleibt von mir nichts als ein flüssiger Traum. Formlose Trinkschokolade! Welch ein Verlust für Genießer! Oder noch schlimmer, ich würde sinnlos im Waldboden versickern. Trotz der Verpackung, Schokolade findet ihren Weg.

 

Das kann es doch jetzt nicht alles gewesen sein?!

 

Ich komme aus einer kleinen Manufaktur, wo Figuren aus „Xocolati“ DAS Premiumprodukt sind. Mein sagenhafter Körper wurde sorgsam aus Criollo – dem Edelkakao aus Ecuador – gegossen. Schokoladen mit einem Anteil von 65 % dieses Kakaos sind was ganz Exquisites. Sie wissen bestimmt, was ich meine? Meine Pfoten haben Akzente aus weißer Chocolat. Die Schnauze und das restliche Fell sind in Vollmilchnuancen schattiert. Niemals werde ich diesen, meinen, Triumph im Augenblick der eigenen Schöpfung vergessen. Diese wunderbare, prächtige Verpackung mit besagten Schleifen trug das ihrige dazu bei und kurze Zeit später lag ich im Korb vom Rotkäppchen. Darin außerdem eine Flasche Spätburgunder. Entkorkt und im Glas passen wir beide ganz vorzüglich zusammen.

 

Wenn nicht…

 

Wie viel Zeit bisher wohl vergangen ist? Und ich wiederhole mich ja ungern, aber es wird zunehmend desolater. Ich bitte um Verzeihung, falls ich Sie in ihrer Scham verletze, aber von meiner Rute ist nicht mehr viel übrig. Meine spitzen Ohren sind fast geschmolzen und laufen nunmehr träge als schokoladige Tropfen vor meinen Augen Richtung Schnauze. Also, wenn nicht gleich was passiert, ist es aus mit mir.

 

Plötzlich fühle ich eine Bewegung, ein leichtes Vibrieren unter mir auf dem weichen Moos. Ein Lichtblitz. Ich sehe goldene Lackschuhe, in denen sich die Sonne spiegelt. Bin ich schon im Himmel? Eine Stimme, weich wie Samt, fragt: „Na, wen haben wir denn hier?“ Ich spüre, wie ich empor schwebe. „Du bist ja ein ganz Leckerer!“, spricht sie weiter.

 

Fasziniert blicke in das schönste Gesicht, welches ich bis dato sah. (Und, Sie haben natürlich Recht, viele sind es bisher nicht gewesen.) Blaue Augen mit langen Wimpern schauen mich sinnenfreudig an, üppige rote Lippen lassen weiße Zähne durchscheinen und die rosa Zunge verharrt abwartend im linken Mundwinkel. „Bei dir komme ich aber auf Gedanken, mein Lieber“ und ganz vorsichtig, um nicht noch mehr an mir zu lädieren, trägt mich die Schöne davon. Weg von der Lichtung durch den dunklen Tann. Schließlich halten wir an einem kleinen, über blanke Steine hinweg gurgelnden Bach. Am Uferrand sehe ich ein hübsches kleines Häuschen, das ganz aus buntem Zucker gebaut zu sein scheint. Angenehm kühl ist es hier und ich merke, wie die Lebensgeister zurückkehren.

 

Sie öffnet die Tür der Kate. Überwältig schaue ich mich um. Schokoladen, soweit das Auge reicht, Pralinen in alle Größen und Geschmacksrichtungen, Regale voller Gewürze, Gläser mit exotischen Nüssen, türkischen Mandeln und Streuseln aller Couleur. Die Mitte des Raumes füllt ein Holztisch, darauf verschiedene Werkzeuge zur Herstellung süßer Verführungen. Auf dem Ofen ruht eine Kupferschüssel, in der es leise köchelt. Ich muss im Himmel von Schokoladenwölfen angekommen sein. Es duftet märchenhaft.

 

Langsam lässt mich meine schöne Trägerin auf dem Tisch nieder und betrachtet mich erneut. „Was machen wir beiden denn nun mit dem angebrochenen Tag?“ säuselt sie und wiegt dabei den Kopf. „Nun, zeig doch mal, was du da hast.“

Ihre Finger öffnen sanft die rote Schleife und ziehen bedächtig die Geschenkhülle auseinander. „Lass mich doch einmal von dir versuchen“, flüstert sie zärtlich und tippt behutsam mit dem Zeigefinger an mein weiches Hinterteil. Ihr Mund öffnet sich und die Zunge schiebt sich durch die Lippen. Sie leckt. Sie probiert mich. Sie schließt die Augen.

 

„Du hast mir noch gefehlt“, raunt sie, hebt mich, so wie ich bin, auf der flachen Hand, zärtlich, durchaus bestimmt, vor ihr Gesicht. Ihre Nase schnuppert an meinem Bauch. Angenehm und sehr aufregend, das können Sie mir glauben. Langsam wandert sie mit mir in Richtung ihrer roten Lippen. „Du magst derangiert sein, aber du bist das Beste, was ich je schmeckte.“ Sie lächelt glücklich, zeigt ihre weißen Zähne, ich sehe ihre rosa Zunge. Was folgt, das wissen Sie genauso gut wie ich. Es ist die Erfüllung, von der ich Eingangs sprach, Sie erinnern sich? Die Verschmelzung, der Sinn des Lebens.

 

Der „kleine Tod“!

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