Dornröschen reloaded

 

Es begab sich einmal, dass man, wenn man von weit oben hinunterblickte, einen schillernden Punkt in einer grünen Landschaft erkennen konnte. Kam man dem Punkt näher, entpuppte er sich als ein hübsches, weißes Schloss mit goldenen Fensterläden. Die Mauern waren mit entzückend zierlichen Türmchen garniert. Um dieses Bauwerk rankten sich dornige, undurchdringliche Rosenhecken mit zauberhaft duftenden Blüten, die sich mit allen Schattierungen, die die Farbe Pink hergaben, putzten. Bunte Schmetterlinge flatterten, emsige Bienen summten um die Rosen herum und am Fuße des Schlosses umkränzte ein Wassergraben, in dem sich liebliche Fische in engelsgleicher Choreografie tummelten, die Grundmauern.

Wer denn hier wohne, hatten sich schon viele stolze Prinzen gefragt und bei dem Versuch, das Schloss über die Hecke zu erklimmen, zuerst die Rüstung, dann das Schwert und zum Schluss ihr Herz verloren. Denn in diesem Haus, welches Anmut, Harmonie und himmelhochjauchzende Freude ausstrahlte, lebte das Dornröschen.

Ein Blick durch das Fenster im höchsten Turm gab das Bild der fast immerzu schlafenden Prinzessin frei. Nun, am Morgen dieses sonnigen Tages, konnte man zusehen, wie sich ihre Augen in dem rosaseidigen Himmelbett öffneten. Ein Reh mit hellblauer Atlasschleife um den schlanken Hals schaute die Prinzessin währenddessen erwartungsvoll an und sagte mit lieblicher Stimme: „Komm du Holde, stehe auf, tue Gutes, sei schön und lächle.“

Und damit hätte nun alles seinen althergebrachten Lauf nehmen können.

„Wo bin ich“, murmelte die eben noch Schlafende leise.

Die Stimme klang heiser, belegt und abgenutzt.

Das Nachtgewand in Mauve mit Brüsseler Spitze im Ausschnitt hatte sich wie eine Fessel um ihre Beine geschlungen und machte ein anmutiges Aufstehen zum jetzigen Zeitpunkt praktisch unmöglich. In ihrem Zeigefinger der rechten Hand steckte, wie vorgesehen, die Spindel des Spinnrads ihrer Patentante. Die linke Hand umklammerte eine Flasche besten Spätburgunders. Leer!

Ja, da lag es, das Dornröschen. Die Arme jeweils nach rechts und links ausgestreckt, die Beine im Nachtgewand verschlungen. Den Blick verloren in der göttlichen Unendlichkeit des rosa Baldachins des Himmelbetts. Eine malerisch Gekreuzigte im Nachthemd.

Hinter ihrer Stirn tobte ein schmerzhaftes Gewitter. Die Zunge fühlte sich pelzig an. Der Geschmack im Mund faulig.

Rotwein! Erdnussflips! Rosafarbene Schokoladenlinsen! Auf dem blankgescheuerten Parkettboden verteilten sich leere Tüten. Das Reh schob neugierig die Nase in eine der Verpackungen. Schnell zog es den Kopf zurück und trollte sich angewidert zurück in Richtung seines dekorativen Körbchens.

Der nächste Blitz in Dornröschens Kopf brachte dieses schlagartig in die Gegenwart zurück.

„Wo bin ich?“ Sie schaute ganz vorsichtig nach links und dann ebenso zurückhaltend nach rechts.

Suchend.

Noch einmal: „Wo bin ich?“

„Und: Wer, zur Hölle, bin ich?“

Sie schlug mit der rechten Hand auf das Seidenlaken.

„Jeden Morgen die gleichen bescheuerten Fragen und keiner mehr da, der Antworten geben kann!“ entfuhr es ihrer Kehle. Konsonanten und Vokale flossen noch etwas lallend ineinander. Die Spindel im Zeigefinger protestierte schwach. Ja, der Platz neben ihr war seit einiger Zeit leer geblieben. Der gestiefelte Kater hatte sehr plötzlich den Ruf der Freiheit vernommen. „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall“, hatte er zu ihr gesagt – und war mit den Bremer Stadtmusikanten wieder über alle Berge. Zurück blieb Dornröschen, die einstige wahre Schönheit, der Ausbund an Tugend, Zartheit, Nachgiebigkeit, Toleranz und so weiter und so fort.

Und so quälte die Prinzessin an diesem lauen, sonnigen, rosa Morgen zum wiederholten Male ein einziger Gedanke: Wieso zum Teufel, musste es in ihrer Geschichte immer heißen: „…und sie lebten glücklich und zufrieden bis zum Ende ihrer Tage. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch ,heute“?

„Am Arsch“ hörte sich die Prinzessin grummeln, „hier stimmt seit etlichen Jahren nichts mehr!“

Und zum Reh gewandt: „Oder hast du das echt geglaubt? Weißt du, es endet immer alles super, lalala, aber wehe, das Buch wird geschlossen. Dann thematisiert der Prinz plötzlich Sinnsuche. Zunächst war ja alles comme il faut, er bekam das Schloss mit einer braven, auf das Glück der anderen bedachten Prinzessin. Und dann findet er sich – sediert vom Trauma fehlender Challenges – in Langeweile wieder. Fett war er geworden und träge – in jeder Beziehung. Was bleibt mir denn da übrig? Beziehungen zu gutgelagerten Spätburgundern und gestiefelten Vagabunden können auch keine Lösung sein.“

Überall im Märchenland das gleiche Dilemma, man hörte bereits von ratlosen Königinnen, die in goldene Zauberspiegel blickten und nicht glauben konnten, was die Ohren hörten. In der Konsequenz suchte eine dieser zutiefst getroffenen Frauen das Weite und lebte ihre erwachte Leidenschaft in einer Männer-WG hinter den sieben Bergen aus. In einer märchenhaften Gesellschaft war es bisher immer so, dass sich der Mann als Prinz viel Mühe mit seinem Schwert gibt, die Prinzessin stillhält und sich in Schönheit erobern lässt. Aber auch der Märchenmarkt muss sich den geänderten Zielgruppen anpassen und dringend entstaubt werden.

Hatte man Aschenputtel je gefragt, welche bewusstseinserweiternden Substanzen in den Haselnüssen enthalten waren? Hallo? Kürbis versus Kutsche? Manchmal erträgt sie es nur so. Oder ein anderer Fall: wie eindringlich war denn die erste Nacht mit König Drosselbart wirklich? Komplexe wegen anatomischer Anomalie! Dabei könnte auch ein zu spitzes Kinn gegebenenfalls Freude bereiten. Alles kann, nichts muss.

Auf das ewig gehauchte „Wo bin ich?“ in der Causa Dornröschen fand der dicke Prinz jedenfalls bald keine Antwort mehr. Ihm wurde damals schlagartig klar, dass sie die Schuld an seiner Trägheit trug, denn in der Zwischenzeit – wir sprechen hier von mehr als 100 Jahren – hatte die einst makellose Schönheit Falten und Cellulitis bekommen. Dann ging er. Man hörte, er stünde öfter unter einem Turm und bettelte um alte Zöpfe.

Das ist mir echt zu blöd, dachte sich Dornröschen, das kann doch nicht wirklich alles gewesen sein. Alles nur wegen dieser Scheißspindel im Finger – und das jeden Morgen. Wir bräuchten alle neue Herausforderungen.

Währenddessen hatte das Reh angefangen, an ihrem Fuß zu knabbern. „Was sind denn das für neue Sitten? Steh jetzt endlich auf und tue deine Pflicht“, sprach es streng. In der Umsetzung bedeutete das: zieh dich an, mache dich hübsch, sei hauptsächlich sehr brav und gleichzeitig nett. Schau dich um, sehr wahrscheinlich arbeitet sich bereits der nächste Traumprinz-Anwärter an der Dornenhecke ab.

Dornröschen zog entschlossen den Fuß zurück und versetzte dabei dem verdutzten Tier ein leichten Stoß auf die Nase. „Sorry“, sagte sie in Richtung Reh „aber das kann ich jetzt echt nicht brauchen.“

Sie streckte sich. Der Kopf war immer noch nicht fit. Aber die Gedanken klärten sich allmählich. Das Sonnenlicht zog träge durch das Turmzimmer und gab dem Schatten der Rosenranken Gelegenheit, sich auf dem Parkett prächtig zu präsentieren. Dornröschen fühlte sich immer noch schwach vom nächtlichen Weingelage, irgendwie klebrig um den Mund.

Das Reh wurde unruhig, schnupperte suchend unter dem geöffneten Fenster. Dornröschen stutzte, richtete sich im Bett auf und lauschte.

Da war ein vertrautes Knistern vom Fenster zu hören. Das Reh spitzte voller Erwartung die Ohren, die Augen leuchteten. Ein neuer Prinz schien den Aufstieg zu wagen, ein neuer Kandidat für den leeren Platz im Seidenbett. Nun konnte alles wieder gut werden. Oder?

Eilig schob das treue Reh das traditionelle Mieder mit der Nase in Richtung Bett und herrschte nun erneut die Prinzessin an. „Steh sofort auf mein Fräulein, ich glaub‘ du spinnst nun endgültig!“ Das Schnaufen und Ächzen als Folge einer Kraftanstrengung aus Richtung Fenster war schon sehr nah.

Dornröschen stand missmutig auf. Die Sonne ging auch schon wieder langsam unter.

„Königstochter, jüngste, mach mir auf!“ erscholl eine Stimme ins Schlafgemach und kurz darauf flog eine goldene Kugel durch das Fenster, überquerte geräuschvoll das blanke Parkett und stoppte am Fußende des Bettes. Dornröschen schaute erstaunt auf das pralle Ding herab. Die Absicht dahinter wurde ihr schlagartig klar. Akzeptanz durch Penetranz? Oder besser Penetration? Ihr Unterleib zog sich zusammen.

„Nope Leute, das war es jetzt, ich bin raus, Schluss!“ entfuhr es ihr, der Prinzessin und weiter: „Verzieh dich, falsche Hausnummer! Der Hofstaat vom eisernen Heinrich wohnt nebenan!“

„Ach, das ist doch total egal, welche von euch kleinen Schätzchen ich beglücke. Ihr wollt doch ohnehin alle das Gleiche!“ kam die Antwort schweratmend von unten herauf. „Apropos, magst du’s eigentlich auch gern ein bisschen härter, meine Schöne? Ich zum Beispiel werde gern an die Wand geklatscht.“ fuhr er fort.

Dornröschen dachte einen Moment lang gar nichts und dann fühlte sie ihn deutlicher als jemals zu vor, den Moment, auf den sie schon so lang gewartet hatte, das Zeichen.

Sie befreite sich vom Nachtgewand und eilte nackt zum Fenster, die Meinungen anderer waren ihr just total egal.

„Vergiss es, der Laden ist geschlossen!“ brüllte sie noch, zog sich endgültig mit Verve die Spindel aus dem Finger und warf sie der kletternden Aufwartung an der Hecke entgegen.

„Spinnst du? Wirst schon sehen, was du davon hast!“ motzte die Stimme des Prinzen, der nun schwer enttäuscht mit dem Abstieg begann. „Ich mein‘s ja nur gut. Habe halt gehört, dass du in der Menopause bist. Dachte ich tu dir damit ‘nen Gefallen. Frustrierte Ziege!“

Sie schüttelte angewidert den Kopf, verdrehte die Augen und sog die frische Abendluft in ihre Lungen. Schlagartig war ihr Kopfschmerz vorbei. Auch das Reh schüttelte den Kopf und verkroch sich, zum wiederholten Mal an diesem denkwürdigen Tag, im Korb mit der Spitzendecke. „Sind diese Wechseljahre eigentlich irgendwann mal vorbei?“ seufzte es kaum hörbar und leicht genervt.

Die Sonne war fast verschwunden und färbte den Himmel rotgolden.

Nackt, wie sie nun war, schaute sie an sich hinunter. Ihr Bild spiegelte sich sanft im Glas der Fensterscheibe. Ihre Hände strichen freundlich über die weichen, gewellten Hüften. Ja, sie wusste, was sie nun tun würde ­– anziehen, Krönchen in die Ecke treten, Wein und Kuchen einpacken, Reh küssen, Schlüssel auf den Küchentisch legen und dann: Bon Voyage!

Als sie, hocherhobenen Hauptes, gänzlich ungeschminkt in Jeans, Chucks und T-Shirt mit Rucksack durch das Schlosstor schritt und den Wassergraben überquerte, heulte in nicht allzu weiter Ferne ein Wolf und das, meine Lieben, hörte sich verdammt gut an.