Raufaser

Die beiden saßen nun allein in ihrer guten Stube. Die Töchter waren gerade gegangen. Auf dem Tisch lagen noch die Aktenordner sowie handgeschriebene Listen, sorgfältig mit Kugelschreiber und Lineal verschriftlicht. Von neumodischen Computern hielten sie nicht viel.

Das sei Dübelskram, da waren sie sich einig. Mit dem Teufelszeug wollte man nichts zu tun haben.

Das Licht war für diesen Abend endgültig hinter dem grauen Häuserblock verschwunden. Sozialer Wohnungsbau am Stadtrand, auf ehemaligen Kartoffeläckern gebaut. Bezahlbarer Wohnraum war nach dem Krieg knapp gewesen.

„Mutter, wir haben einen Fehler gemacht. Das ist gar keine Raufasertapete an der Wand. Da ist ein Muster. Schau doch mal genau hin.“

Zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, jeweils in einem Sessel, im Wohnzimmer einer Dreizimmer-Erdgeschoss-Wohnung mit Balkon.

Kleine, im Raum verteilte Tischlampen waren eingeschaltet worden, eine auf dem Platz neben dem Sofa sowie eine weitere hinter dem Röhren-TV. Zusätzlich hatte die Straßenlaterne auf dem Gehweg draußen die Gelegenheit, ein wenig Helligkeit durch das breite Fenster zu bringen. Die geraffte Gardine sollte keinen Einblick in ihr Leben gewähren. Aber das Leben in der Nachbarschaft bot, aus dieser geschützten Position heraus, immer wieder Gesprächsstoff. Gegenüber, wo der alte Mann blaue Schlümpfe ans Fenster geklebt hatte oder die Frau nebenan, die mehr als zwölf Katzen in ihrer Wohnung hielt.

Die zahlreichen Orchideen auf der Fensterbank, in Lila, Weiß und Rosa, traten durch den Lichteinfall hervor. Zwischen den farbigen Übertöpfen, die zur Aufwertung der floralen Discounter-Ware notwendig waren, befanden sich Keramikzwerge in unterschiedlicher Größe, eine Entenfamilie mit drei Küken aus braunem Speckstein sowie selbstgebastelte Kerzenständer aus der Kindergartenzeit der Enkelkinder. Geschenke zu Weihnachten und an Geburtstagen. Immer mit der zu erwartenden Rührung entgegengenommen.

Der gesprochene Satz, die Tapeten betreffend, blieb unkommentiert im Raum stehen.

„Wie das Wetter wohl morgen wird“, fragte die Frau nach einer Weile und schaute auf die Topfblumen.

Es gab darauf nichts zu sagen.

Die Frau sah immer noch zum Fenster hin. „Vielleicht schaffe ich es ja bis Ende der Woche die Fenster zu putzen und die Gardinen zu waschen?“

„Ich bringe den Papierkram wieder weg“, sagte er, erhob sich hörbar ausatmend, ein unbekümmertes „Uppalala“ von sich gebend und ging durch die Tür in Richtung Schlafzimmer, wo die Familiendokumente aufbewahrt wurden.

„Uppalala“ bedeutete „Hoppla“, denn wie in fast allen Familien gab es auch hier Buchstabengebilde, die nur Eingeweihte verstanden und dieses Wort, sofern man es so bezeichnen konnte, war eines davon – Kindersprache, die aus der Zeit des Sprechenlernens der Töchter hängengeblieben und nun fest im Sprachgebrauch etabliert war.

Sagen sie das nicht seit der Jüngsten?

Es spielte keine Rolle.

Die Sessel gehörten, wie auch Dreisitzer, Couchtisch und Furnierschrankwand, zum verlässlichen Wohninterieur. Gepflegte, unerschütterliche Häuslichkeit, solide und robust. Man ging nicht mit der Zeit, lediglich die Farben variierten. In den letzten Jahren war man zu einem nussbraunen Bezug übergegangen. Um diesen wiederum zu schonen, lagen Frottee-Gästetücher auf der Rückenlehne, dort, wo sich der Kopf abzulegen pflegte, außerdem auf beiden Armlehnen. Allerdings nur da, wo der Mann gewöhnlich Platz nahm.

In den Nischen der Schrankwand war genug Raum für die Hochzeitsfotos der Kinder und die Babybilder der Enkel. Dazu Kunstgewerbe und ein paar Bücher. Nichts Wichtiges, ein bisschen Klassik wie Vladimir Nabokovs „Lolita“, die Feuerzangenbowle von Spoerl und Konsaliks „Wer stirbt schon gern unter Palmen“.

„Schaffst du das allein, Vater? Oder brauchst du Hilfe beim Tragen“, fragte die Frau im Sessel, bevor er den Raum verließ.

„Das werde ich ja wohl noch schaffen. Wär‘ ja gelacht!“, rief er ihr von der Türschwelle aus zu.

Ihr Blick heftete sich fest auf ihre Füße, Knöchel an Knöchel, auf die helle Auslegware. Die Lippen fest zusammengepresst, der rechte Arm unter ihrer Brust, die linke Hand umspielte das Kinn. Sie schaute prüfend in Richtung Raufaserwand und schüttelte den Kopf

„Da ist kein Muster! Der spinnt ja!“ murmelte sie.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Es ist so still, irgendwie alt und muffig. Wie die Möbel, dachte sie. Und nun das.

Der Mann kam zurück. „So, nun machen wir den Tisch wieder fein.“

Das hieß, zuerst die Decke mit farbenfrohem Kreuzstichmuster, die vor der Besprechung mit den Töchtern Kante auf Kante im Schrank verstaut worden war, ordentlich auf den Couchtisch zu legen – um dann das Töpferkännchen mit den getrockneten Blumen eines vergangenen Hochzeitstages von der Anrichte in die Mitte des Tisches zu stellen.

„Ich bringe diese Tüte noch schnell in den Kühlschrank“, sagte der Mann, packte die Tasche aus der Apotheke und verließ, geschäftig, das Wohnzimmer erneut.

„Du bringst immer eine Unruhe hier rein, jetzt bleib doch einmal sitzen, den ganzen Tag bist du am Rumrennen. Immer noch Hummeln im Hintern. Ollen Wippstert“, fügte die Frau leise im plattdeutschen Dialekt ihrer Kindheit hinzu.

Er kam zurück, ließ sich langsam im Sessel nieder, legte die Hände rechts und links auf die braunen Frotteetücher und starrte auf seine Beine.

Die Frau schaute ihn an und dann gleich wieder – bevor er sie ertappte – in Richtung Fenster.

Sie schwiegen.

Sie zupfte an der Tischdecke und rückte sie dabei gerade. „Da ist ja ein Fleck. Das ist wohl Rotwein. Die Mädchen trinken alle ein bisschen viel gerade. Schon nachmittags. Kein Wunder.“

Er schaute auf. „Wenn‘s hilft. Es ist, wie es ist.“

Du musst es ja wissen, dachte die Frau. Er ist ja trotzdem so alt geworden. Aber in den letzten Monaten ging es rapide. Wie kann das sein? Vor einem halben Jahr saßen wir noch am Meer in der Sonne. Es war alles gut gewesen. Plötzlich fühlte sie eine große Wut in sich aufsteigen.

Alles Lüge!

Der Mann schaute nach rechts zu seiner Frau. Mehr als ein halbes Jahrhundert verheiratet. Drei Kinder. Das war alles ziemlich schnell gegangen. „Es war gut, dass wir mit den Mädchen gesprochen haben. Dann bist du raus aus allem. Das würdest du auch nicht mehr schaffen. Die sind noch jung und stehen mit beiden Beinen im Leben. Da muss man sich keine Sorgen mehr machen“, stellte er fest.

Und dann: „Ja, wer hätte das gedacht? Es wird ja nun nicht mehr, oder?“

Er antwortete selbst in die Stille hinein: „Ich weiß es nicht.“

Die Frau richtete sich auf. „Du hast Schuld, du bist selbst schuld“, fuhr sie ihn an. „Immer hab ich dir gesagt, hör auf, aber nein, der Herr wusste ja immer alles besser.“

Der Mann wandte den Kopf erneut seiner Frau zu. „Was redest du da? Das hast du nie gesagt. Das wüsste ich aber. Das bildest du dir ein.“

„Genau, ich bilde mir was ein. Wer hat denn gerade ein Muster auf der Raufasertapete gesehen? Ich jedenfalls nicht.“ Ihre Stimme überschlug sich, während sie die Worte herausstieß. „An Raufasertapeten gibt es das nicht! Das solltest du wissen, nach fünfzig Jahren.“

Sie fing an zu weinen. „Alles, alles habe ich für dich und euch getan. Die Kinder großgezogen, geputzt, gewaschen, dir die Kleidung morgens rausgelegt. Du hättest sonst zur braunen Hose ein rotes Hemd getragen. Farbenblind bist du, farbenblind. Schon immer. Was hättest du ohne mich gemacht?

Und was machst du jetzt?

Lässt mich hier sitzen.“

Der Mann schaute auf den Boden.

„Was sagst du nun? Nichts! Wie immer, du sagst nie etwas. Du hast ja immer nur das Geld nach Haus gebracht.“

Der Mann hob den Blick auf die Wand. „Also, ich sehe da ganz deutlich etwas. Da sind Blumen und Bäume im Schatten zu erkennen. Wie im Dschungel. Richtig schön.“

Wie lange noch? dachte die Frau. Zwei Monate, höchstens drei, hatte der Arzt gestern zu ihnen gesagt. Da wäre dieses Gewächs in der Lunge, das nicht operabel sei, da es sich die Hauptschlagader als Platz zum Wachsen ausgesucht habe. Die Blutversorgung wie eine böse Liane umschlungen habe. Der Krebs habe gestreut, es gebe Metastasen im Kopf, und das könne die Wahrnehmung trüben.

Aber ich verstehe doch gar nichts von Medizin, dachte die Frau. Schatten in der Lunge, Schatten an der Wand. Der spinnt wirklich.

„Ich liebe dich”, sagte die Frau.

Sie schauten sich an.

„Ich liebe dich auch”, sagte der Mann.