…kehre ich zurück und tauche ab. Bewege mich durch Raum und Zeit.
Ich schließe die Augen und sehe Glanzbilder aus Poesiealben, dicke Engelsgesichter mit Glitzer im üppigem Haar. Ich schaue auf den Adventsschmuck im Wohnzimmer meiner Großmutter. Auf dem Tisch in der Mitte stehen Porzellan-Engel in blauen Kleidchen. Sie haben sich im Kreis um einen Teller versammelt. Am Rand dieser Platte verläuft einmal rundherum eine Rinne mit Wasser für die Tannenzweige. Hübsch sieht das aus. Gemütlich und zugleich ehrfürchtig. Wenn ich jetzt noch weiter in die Vergangenheit reise, spüre ich sofort dem viel zu süßem Geschmack von Quality-Street-Bonbons nach. Dieses englische Toffee in bunter Verpackung. Es bleibt in den Zähnen hängen, aber egal. Milchzähne muss man nicht putzen.
„Gleich kommt das Haus am Eaton-Place im Fernsehen!“ Jetzt höre es ganz genau. Das hat auch etwas mit meiner Oma zu tun. In meiner Erinnerung sah Oma in jung immer aus, wie Rose Buck, denn meine Großmutter war früher auch Dienstmädchen – in Stellung – in einer reichen Familie. Dort passte sie auf die kleine Tochter auf und machte den Haushalt.
Der Kohle-Ofen hinter der Tür im Wohnzimmer bullert vor sich hin und im Bouclé Sessel sitzt Omas Freundin „Hannchen“. Auf dem Boden neben ihr steht wie immer eine Flasche mit Melissengeist. Carmol. Diese Medizin hilft gegen alles Mögliche sagen die beiden immer, Kopfschmerzen, Übelkeit, Einsamkeit und die Erinnerungen an die Flucht aus Ostpreußen über das „Haff“. „Pauseleinchen“ sagt „Hannchen“ immer und kneift dabei allen, denen sie habhaft werden kann, in die Wangen. Es klingt irgendwie zärtlich. Oder „Marjellchen“, je nachdem wie es gerade passt.
Oma und „Hannchen“ sind große Fans von Jesus, den Gebeten dazu und von den Losungen der evangelischen Kirche. Ich weiß, wie wichtig ihr das ist. Sie sagt immer der Herr Jesus hat sie getröstet. Und Oma hatte viel Schmerz in sich. Ihr Mann war verschollen. Auf einer Scholle? Was heißt denn das? Ich verstehe das nicht. Aber es gab einen Krieg als Oma ein Kind war und noch einen, als sie eine Ehefrau wurde und eine Mama und eine Witwe.
Manche Wunden, das weiß ich jetzt, werden nie heilen. Der Schmerz geht unbeachtet der Tiefe weiter an die Nächsten, die geboren werden… und auch bei denen helfen, Melissengeist und Süßigkeiten.
Bis es auf dem Magen schlägt.
Aber das gehört trotzdem alles hierher, zu mir. Die Samstage bei Oma im heißen Wohnzimmer, die schweren Federbetten im kalten „Jungmädchenzimmer“. Die Gutenachtgebete und die Schlaflieder. „Abendsegen“ aus „Hänsel und Gretel“ hat sie mit immer vorgesungen. So viele Engel, dachte ich damals, dann kann nichts schief gehen.
Geborgenheit.
…manchmal öffne ich das Fenster in einer kalten Novembernacht und kuschle mich auf meine Seite des Bettes und bin dankbar.