Grusel

Der November, ja, das ist immer mein Gruselmonat.

Totensonntag, Volkstrauertag, Buß- und Bettag.

Zeit zum Denken – Nachdenken. Und im Rahmen dessen, nähere ich mich zähneknirschend der Einsicht, den Zenit des Lebens überschritten zu haben. Ich würde jetzt gern schreiben, an diesem, regnerischen, kalten Tag, dass man alles positiv sehen sollte.

Geht nicht. Es ist 9 Uhr am Morgen und der Eierlikör noch nicht fertig.

Zurück zum Thema: Irgendwann ist es vorbei, dann spaziere ich nicht mehr mit meinen Leuten über den wunderschönen Friedhof, um die Ruhe vor dem Verkehrslärm zu genießen. Nein, dann ist die unendliche Ruhe eingetreten.

Noch bin ich dazwischen, will Dinge erleben, schreiben, diskutieren, feiern und tanzen. Dachte ich, bis Oktober! Doch seit Anfang November sehe ich überall Siechtum, Demenz , Rollatoren. Die alte Dame gestern, die mit ihrer Gehhilfe einen Stau verursachte, dient mir nun fortan als memento mori.

Aber wie DAMIT umgehen? Desiderata? Dieses Gedicht, dass mich zum Frieden bringen soll, ok…wenn die meinen.

Aber ich bin noch nicht so weit. Statt geduldig zu sein, bin ich unleidig mit mir, ärgere mich, wenn ich im Dunklen nicht alles sehen kann, weil mein großes Kind vor mir meine Sicht nach vorn auf den Gehwegversperrt.

Andererseits bin ich in der Pause für einen „powernap“ dankbar – das ist ein Euphemismus für senilen Mittagsschlaf . Darüber hinaus finde ich mittlerweile Sachen in meinen Falten, die ich schon lange gesucht habe und dachte, dass sie für immer verloren gegangen wären*) Danke für dieses Bild, liebe Sarah Bosetti*) .

Meinem Gatten S. geht es im übrigen genauso. Deshalb verstehen wir uns ja auch so gut.

Aber wie stelle ich mir mein Ende vor? Würde ich spüren, dass es bald vorbei ist? Hätte ich keinen Hunger mehr? Würde ich nur im Bett liegen? Zeichen? Stromausfall? Blitze? Knattern? Nebel? Sensenmann?

Vielleicht so: Es klopfte in einer stürmischen Nacht an der Tür. Ich öffnete und vor mir stünde Heidi Klum, nur mit einem ihrer V-secret-Slips, Glitzer-BH und Flügeln bekleidet. Sie spräche mit fiepsiger Stimme, sie hätte ein Foto für mich. Dann schriee ich: „Nein! Ich will aber nicht!“ Sie klimperte mit den falschen Wimpern und trüge ein Fragezeichen im Gesicht: „Aber es ist doch himmlisch, Mädchen. Da wirst du gestylt, die Haare werden verlängert, das Fett abgesaugt, die Haut gestrafft, die Lippen gepumpt, die Wimpern geklebt. Alles Tippitoppi.“

Mit letzter Kraft schlüge ich ihr die Tür vor der Nase zu. Ich ginge zum Kühlschrank, schmierte mir ein Toast mit Schokocreme, leckte mir die Finger ab und kröche zurück ins warme Bett.

Blöder November.

Heidi Klum? Lächerlich! Burt Lancaster? Viel besser!

Muss ich mal mit S. klären.