Innere Ansichten

Da stand ich jetzt nun, nackt bis aufs Sterntalernachthemd.

Allein im Flur der großen Wohnung.

„Der Spaß hat genau jetzt ein Loch“, hattest du gesagt und dich, komplett für das Draußen gestylt, zum Ausgang begeben.

Peng!

„Nach drei Kindern ist die Tussi auch nicht mehr die Straffste!“, brüllte ich noch durchs Treppenhaus hinter dir her und knallte die Tür zu. Wie in einem Hollywood-Film glitt ich drinnen rücklings an ihr hinunter zu Boden.

Dann ließ ich alle verfügbaren Schlosshunde los und heulte.

Der ganze Schmerz, die Eifersucht, das mutmaßliche Nichtgenügen.

Klappe! Und bitte! Zeit für Selbstmitleid.

Ich bin Schriftstellerin und liebe einzelne Worte genauso leidenschaftlich wie mitreißende Geschichten. Selbstverständlich keinen Kitsch. Nichts Seifiges. Ich schreibe auch sachlich, also gegen Geld, aber eigentlich bin ich selbst eher Drama.

Und jetzt habe ich nur noch zwei Wochen Zeit bis zur nächsten Abgabe.

Schreiben was ist! Ja! Sicher! Und was genau ist jetzt?

Ich schloss die Augen. Fassen wir mal zusammen. Also mein Elfenbeinturm hatte jedenfalls einen mächtigen Knick bekommen. Schon allein deswegen hing das Dach mal nach rechts oder nach links runter.

Die Fenster waren spätestens seit dem Sturm am Morgen vernagelt. In den inneren Zimmerfluchten herrschte das blanke Chaos, der Hofstaat zeigte sich empört.

Mein persönliches Sturmtief trägt den offiziellen Namen „defectus dignitatis sui“, was nichts weiter bedeutet als mangelnder Selbstwert und der machte mir das Leben seit eigentlich schon immer madig. Minderwertigkeitskomplex klingt auf Latein selbstverständlich viel besser, gebildeter.

In diesen Zuständen fühle ich mich wie eine Hochstaplerin, eine Mogelpackung. Und das ist nicht gut, nein, wirklich nicht. Für keinen von uns. Empfindlichen Seelen wie mir wird das künstlerische Leben dadurch noch mehr erschwert. Mit Zweifeln am eigenen Erfolg. Oder, wenn es ganz schlimm kommt, werden weitere Lorbeeren dadurch gar nicht erst möglich.

Leider weit verbreitet

Wir sind viele.

Perfide!

Das Außen brauchte aber genau jetzt mal eine Pause. Luftschnappen im friedlichen Innen.

Einatmen und Ausatmen. Entspannen. Ich schloss die Augen.

Kurze Zeit später fand ich mich in einem Treppenhaus wieder. Einem, das ich sehr wohl kannte, denn es roch nach Sellerie, Lauch und Geräuchertem. Gemüsesuppe mit Rindfleisch, das gab es früher immer bei uns zu Hause.

Ich stieg die Terrazzostufen weiter hinauf und bemerkte einen Augenblick später, dass ich nicht mehr alleine war.

Neben mir stieg schwerschnaufend und sehr verlässlich Mademoiselle Kiki die Stufen empor.

„Hallo, Liebes“, begrüßte sie mich. „Hat’s dich mal wieder erwischt? Müssen wir etwas gerade richten?“

„Danke. Eigentlich dachte ich, ich hätte solche Episoden hinter mir gelassen. Aber ja doch, die Freude ist ganz meinerseits,“ gab ich missmutig von mir und schniefte.

Sie wackelte währenddessen mit dem rosa Strohhut. Wir kannten uns seit einiger Zeit. Die Elefantendame Mademoiselle Kiki und ich. Genauer seit dem Volkshochschulkurs „Krafttiermanifestierung für Frauen ü40“.

Freunde für’s restliche Leben. Naturgegeben kräftig ist sie, geduldig sowie mit einem enormen Gedächtnis ausgestattet. Nie vergisst sie etwas. Insgesamt sind wir ein Superteam im Namen der Rettung aus geistiger Verwirrung. Besonders jetzt in der Menopause.

Dritter Stock. Wir waren oben angekommen. Ich schaute mich auf dem mir sehr vertrauten Treppenabsatz mit den beiden Türen um. Links wohnte niemand. Auf dem Dachboden, der sich hinter der Tür verbarg, hatte ich als Kind viel Zeit verbracht, am liebsten alleine.

„Wo steckt sie denn diesmal?“ fragte ich genervt. Das verstörte Kind zu suchen war immer eine Herausforderung.

„Folge den Bonbonpapieren,“ meinte Kiki „oder den Schokoladenresten. Je nachdem.“

Wir öffneten vorsichtig die rechte Tür und betraten leise die Wohnung. Sie war eng, man konnte sich kaum bewegen. Wir kamen dennoch voran. Hatten wir doch eine Mission. Wir kannten uns aus, war ja nicht das erste Mal. Im Jungmädchenzimmer brannte noch Licht, also schlichen wir uns leise hinein.

„Hallo?“ fragte Kiki vorsichtig.

Keine Antwort.

„Kleines? Wo bist du denn?“ Kikis Stimme war voll von Güte und Nachsichtigkeit. Das ging mir ja völlig ab. Ich war ungeduldig und ganz meine Mutter.

„Schau doch mal unters Bett“, schlug ich vor.

„Wie du das immer weißt“, meinte Kiki, legte mir ihren Rüssel liebevoll um die Schultern und zwinkerte mir zu.

Und richtig, da lag sie.

Eine vollständig bekleidete Frau mittleren Alters. Eine durchaus attraktive Person in einem aufgeplatzten, rosa Kostüm einer Rokoko-Prinzessin, jedoch mit neuen, teuren Schuhen an den Füßen. Sie sah aus, als ob sich ein grausames Kind mit einem Barbie-Kleid an ihr versucht hätte.

„Was macht ihr hier? Geht bloß weg!“ maulte sie uns mit leidender Stimme an.

Und um ihren Rauswurf zu unterstreichen, schmiss sie uns eine halbe Tafel bittere Schokolade entgegen.

70% Kakaoanteil.

„Och, schade, die mag ich aber auch,“ sagte ich. Kiki verdrehte die Augen, „Weiß ich doch“ und stocherte unterdessen mit dem Rüssel unter dem Bett herum.

„Komm da jetzt mal raus, Schätzchen.“

„Nein, ich will nicht.“

„Ohhh, das ist aber schade. Warum denn nicht?“

„Ob ich da bin oder nicht. Die anderen sind immer besser als ich! Alle lieben die kleinen Süßen mehr als mich.“

Wie einer Regieanweisung folgend ertönte aus dem Nebenraum fröhliches Kinderlachen.

„Aha, klarer Fall von schwerem Thronschubs nebst zeitlich zu frühem Rauswurf aus dem heimischen Nest,“ stellte Kiki leise und mitfühlend in meine Richtung fest. „Perfekter Nährboden für einen postpubertären Anfall von Selbstmitleid.“

Gedankenverloren murmelte sie: „Trauma und Begabung. Sie könnte auch darüber schreiben.“

Ich schaute mich währenddessen im Raum um. Natürlich kannte ich dieses Zimmer ziemlich gut. Jugendmöbel in grün-beigem Furnier. Ein Bücherregal bestückt mit u. a. Thomas Mann, Karl Marx, Alice Schwarzer, Sylvia Plath, Rita Mae Brown. Diese Welt passte nicht so recht zum Rest der Wohnung und zum Geruch nach Sellerie.

„Komm raus!“ sprach Kiki sanft erneut unter das Bett.

„Nein, geht weg! Versteht ihr nicht? Ihr sollt verschwinden!“ kam die schwache Antwort zurück.

„Verstecken ist aber keine Lösung, mein Häschen. Im Gegenteil. Du musst dich zeigen. Ich verspreche dir, dass du von nun an nur Leute triffst, die zu dir passen.

Verbiegen macht Rückenschmerzen und jetzt komm!“

Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.

„Sag bitte noch einmal wieso ich da bin,“ kam es unter dem Bett hervor.

„Also, mein schönes, begabtes, witziges, einzigartiges und auf keinen Fall selbstherrliches Mädchen. Und Frau natürlich. Egal, was du machst, es gibt dich nur einmal. Außerdem flucht niemand besser als du.

Was gut und notwendig ist, manchmal.“

Unter dem Bett bewegte sich etwas.

„Gott sei Dank, mir wären fast die Adjektive ausgegangen,“ flüsterte Kiki.

Langsam schob sich ein mit Staubflusen bedeckter Schuh unter der Matratze hervor ins Licht.

Einer Geburt gleich zogen Kiki und ich die sehr staubige Frau komplett aus ihrem Versteck heraus. Sie schüttelte sich.

„Und nun?“

„Na, deine Fünfzimmer-Altbauwohnung will dich zurückhaben. Und dein Schreibtisch auch.“

Wir schlichen leise zum Ausgang.

„Ist da jemand?“ rief eine seltsam vertraute Stimme aus der Küche, zwischen Tellerklappern und Blasmusik aus dem Radio. Aber bevor eine von uns auf die Idee kam, zu antworten, waren wir schon wieder im Treppenhaus…

… ich öffnete die Augen und holte tief Luft. Noch immer saß ich mit dem Rücken an unserer Wohnungstür.

Und dann wurde ich sanft nach vorn geschoben. Die Tür bewegte sich vorsichtig und dann sagtest du: „Da war doch gar nichts, nur Kaffeetrinken.“

Und ich wusste nun, was ich schreiben wollte.